Beitrag vom 15.04.2011
In den Notfallvorbereitungen für AKW Lingen kommt Nordhorn-Range kaum vor
Was wäre, wenn ein Super-GAU wie in Japan im Atomkraftwerk Emsland passieren würde, wenn zum Beispiel ein Flugzeugabsturz zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität führen würde? Sind die örtlichen Behörden auf eine „kerntechnische Großschadenslage“ vorbereitet? Solche Fragen stellen sich in diesen Tagen viele besorgte Bürger. Sie wissen wenig über bestehende Notfallpläne und grundsätzliche Verhaltensregeln – auch weil sich vor Fukushima kaum jemand dafür interessiert hat.
Von Rolf Masselink - Nordhorn. Als im Jahre 2005 für alle Einwohner im Umkreis von zehn Kilometer um den Lingener Atommeiler Jodtabletten verteilt wurden, wollte sie kaum einer haben. Auch in Wietmarschen und Lohne blieben die Tablettenschachteln in den Apotheken liegen, nicht mal 20 Prozent aller Bürger holten sie ab. Auch die Notfall-Broschüren, die Ende der 1990er Jahre verteilt wurden, landeten zumeist schnell im Altpapier. Doch nach Fukushima ist alles anders: Plötzlich steckt sie in den Köpfen, die bange Frage: Was wäre eigentlich, wenn so etwas bei uns passierten würde?
Dabei gibt es seit der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks in Lingen im Jahre 1988 klare Regelungen für einen „kerntechnischen Unfall“, also ein Schadensereignis, das in der internationalen Bewertungsskala für Pannen in Atomkraftwerken mindestens die Stufe vier erreicht. Zum Vergleich: Die Katastrophe von Japan galt bis vor wenigen Tagen als Störfall der Stufe 5 (Ernster Unfall). Seit Dienstag gilt jetzt – wie 1986 bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – die höchste Stufe 7: Der Super-GAU, der Größte Anzunehmende Unfall.
Bei Atomunfällen ab Stufe 5 sieht auch rund um das Kernkraftwerk Emsland ein vorbereiteter Katastrophenschutzplan „abgestufte Maßnahmen“ vor, um „die Folgen eines extrem unwahrscheinlichen kerntechnischen Unfalls für die Bevölkerung zu mildern“. Das beginnt mit der Aufforderung, im Haus zu bleiben und das Radio einzuschalten und führt im schlimmsten Fall bis zur Evakuierung ganzer Landstriche. Dieser Notfallplan ist immer wieder überarbeitet worden, zuletzt im Herbst 2010.
Dabei wurden unter anderem die Einsatzzonen um den Reaktor vergrößert: Das direkte Umfeld des Reaktors bis zu zwei Kilometern Entfernung bildet die so genannte Zentralzone. Um sie herum liegt bis zu zehn Kilometer Entfernung zum Reaktor die Mittelzone.
Sie umfasst auf Grafschafter Gebiet die größten Teile von Lohne und Wietmarschen. Bis zum Rand dieser M-Zone reichen die detailliert vorbereiteten Evakuierungspläne. Für die Bewohner dieser Zonen lagern vor Ort auch die Jodtabletten, die im Ernstfall nach Aufforderung eingenommen werden sollen.
Für die Außenzone (bis 25 Kilometer um den Reaktor, unter anderem Stadtgebiet Nordhorn) und die neu geschaffene Fernzone (bis 100 Kilometer) würden Evakuierungen – wenn überhaupt – erst in einer zweiten Stufe auf der Grundlage der konkreten Schadenslage organisiert. Auch die Jodtabletten für die Bewohner dieser Zonen müssten erst aus einem Zentraldepot herbeigeschafft werden.
Ziel aller Evakuierungen wäre übrigens das westfälische Ahaus. Dort sind in Abstimmung mit den dortigen Katastrophenschutzbehörden Aufnahmequartiere vorbereitet. Eine Evakuierung in die Niederlande ist bisher nicht geplant, da unabhängig von Wind und Strahlung die Zuständigkeit der Katastrophenschützer an der Grenze endet.
„Das Thema eines Reaktorunglücks ist uns im Übungsfall nicht fremd“, beruhigt der für den Katastrophenschutz rund um das Kraftwerk zuständige Landkreis Emsland. Wer wann was wie zu tun hat, legt ein umfangreicher Katastrophenschutz-Sonderplan Kernkraftwerk Emsland (KKE) fest. Er setzt – amtsdeutsch formuliert – „nicht nur ein großflächiges Alarmierungsnetz und die Information der Bevölkerung in Gang“, sondern regelt auch „Schutzmaßnahmen wie die Ausgabe von Jodtabletten und die Evakuierung der Bevölkerung“. Die Verantwortlichen hoffen zuversichtlich, dass die geplanten und vielfach eingeübten Maßnahmen im Ernstfall auch funktionieren. Ob sie auch ausreichen würden, weiß keiner.
Sicher ist: Die seit einigen Tagen diskutierte Möglichkeit, eine Nuklearkatastrophe durch den Absturz eines auf Nordhorn-Range übenden Kampfflugzeugs auszulösen, spielt für die Katastrophenschutzplaner nur eine untergeordnete Rolle. „Für uns ist es letztlich unerheblich, wodurch es zu einer Freisetzung von Radioaktivität kommt“, sagt Henning Kammer, zuständiger Dezernent für Katastrophenschutz beim Landkreis Grafschaft Bentheim. Die Reaktion auf die Freisetzung erfolge immer nach dem gleichen vorbereiteten Notfallplan.
Ist aber wegen der Range das Risiko größer? Keine Antwort. Die baulichen Sicherheitsvorkehrungen gegen einen Flugzeugabsturz seien in Lingen „unter anderem aufgrund der Nähe zur Nordhorn-Range“ höher als bei älteren Atomkraftwerken, versichern die Planer in Meppen. Allerdings: Auch die Katastrophenschützer beim Landkreis Emsland und in Nordhorn beobachten die Situation in Japan sehr genau. Sie haben daher den Druck der gerade neu überarbeiteten Notfallschutzbroschüre für die Bevölkerung rund um das KKE Lingen gestoppt. Vorerst kann die Broschüre nur online – auf den Websites beider Landkreise ziemlich versteckt – heruntergeladen werden. In der Druckversion sollen noch neue Erkenntnisse aus dem laufenden Atom-Moratorium berücksichtigt werden.
„Ob es zu neuen Bewertungen kommen wird, liegt in der Verantwortung der Strahlenschutzkommission des Bundes“, erklärt der Landkreis Emsland. In diesem Zusammenhang sei auch abzuklären, ob die Nähe zur Nordhorn-Range „zu weiteren Sicherheitsmaßnahmen Veranlassung“ gibt.
Bis dahin läuft das Kraftwerk weiter – und Nordhorn-Range offenbar auch.
Die Notfall-Broschüre im Internet unter folgendem Link:
http://www.grafschaft-bentheim.de/cms/modules/files/ download.php?id=2072